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Eifelgemeinde mit Herz
Der Strickscheider Matthias Arnoldi erinnert sich daran, wie er als kleiner Junge im Winter 1944 das letzte Weihnachtsfest des Zweiten Weltkriegs erlebt hat.
Von Stefanie Glandien Strickscheid
"Wenn ich in das Tal gucke, kommen die Erinnerungen wieder hoch", sagt Matthias Arnoldi und blickt von seinem Esstisch durch das Fenster auf die gegenüberliegende Seite. Damals, im Winter 1944, tobte der Zweite Weltkrieg. Auch in der Eifel.
"Die Front verlief vor unserer Haustür. Die Deutschen feuerten von Matzerath aus und die Amerikaner von der anderen Seite", sagt der heute 82-Jährige. 1944, Matthias Arnoldi war sechs Jahre alt, lebte er zusammen mit seiner Mutter und seiner damals zweijährigen Schwester in einem Haus am Ortseingang von Strickscheid.
Sein Vater, gelernter Schreiner, kämpfte in Russland. Um nicht so allein zu sein, zog die Mutter mit den Kindern zu den Schwiegereltern, die im selben Dorf wohnten. Das Haus hatte einen Keller, der stabil gebaut war und als bombensicher galt. Jeden Abend kamen die anderen Dorfbewohner und drei Familien aus Lünebach, um dort gemeinsam die Nächte zu verbringen. "Wir lagen eng an eng, Kopf an Fuß", sagt Arnoldi.
Jeden Abend wurde zusammen Rosenkranz gebetet, dreimal hintereinander. Danach gab es eine Pause und dann wurde ein weiterer Rosenkranz gesprochen. Die Mutter betete, dass die Amerikaner bald kommen mögen. Ein Lünebacher fragte: "Ja, dürfen wir das eigentlich?" Worauf seine Mutter, eine sehr gläubige Frau, antwortete: "Das machen wir well." "Ein paar Wochen vor Weihnachten standen plötzlich SS-Leute vor der Tür und befahlen uns, das Haus zu verlassen", erinnert er sich.
Strickscheid wurde zum Kriegsgebiet erklärt. Alle mussten ihre Häuser räumen. Doch die Großfamilie wusste nicht, wohin. "Mein Vater befand sich an der Ostfront. Von ihm hatten wir schon seit sechs Wochen kein Lebenszeichen erhalten und meine Mutter weinte oft." Am folgenden Tag war die SS wieder da. Sie banden die Tiere aus den Ställen los und trieben die acht Kühe, etliche Jungtiere, Schweine und Schafe das Tal hinunter.
"Wir standen unter Schock. Meine Mutter fing an zu zittern", sagt Arnoldi. Da der Familie die Kühe genommen wurden, hatte sie Angst, die Kinder nicht mehr ernähren zu können. Was dann passierte, hat sich Matthias Arnoldi ins Gedächtnis eingebrannt: "Wir sind runtergelaufen zur SS. Meine Mutter fiel auf die Knie und hat geweint und gefleht und zu einem der Männer gesagt: "Wenn du Kinder hättest, könntest du mich verstehen!'"
Ein weiterer SS-Mann, der die Szene beobachtete, ordnete an, dass die Familie zwei Kühe zurückbekommen sollte. Sofort wurden die zwei verbliebenen Pferde vor den Wagen gespannt und das Notwendigste gepackt, "und dann stiegen unter Tränen mein Großvater, meine Großmutter, Tante Gretchen, der Franzose Victor, die Russin Nadji, meine Schwester Rosi und zuletzt meine Mutter und ich auf den Wagen", sagt Arnoldi.
"Mein Onkel Willi sagte 'hopp' zu den Pferden, als würden wir eine Fuhre Heu in die Scheune fahren. Aber auch ihm, den wir Kinder so sehr mochten, kullerten die Tränen am Kinn herunter." Als die Fuhre durch Schönecken fuhr, waren die Kühe am Ende ihrer Kräfte und legten sich auf die Straße. Sie wurden bei Leuten untergestellt. Dann ging es weiter. Sieben Stunden dauerte die Fahrt nach Kopp, ins kleine Dorf bei Birresborn, wo entfernte Verwandte wohnten. Zusammen mit der Russin Nadji schliefen Mutter, Schwester und Matthias Arnoldi in einer kleinen Abstellkammer. "Wir lagen auf dem Boden. Es reichte uns schon, wenn der Kopf weich lag." Morgens, am 24. Dezember, sagte Onkel Willi beim Frühstück: "Heute werden die Amerikaner wohl keine Bomben runterwerfen. Wir fahren nach Strickscheid und bringen einen Wagen Kartoffeln mit." Onkel Willi, der Franzose Victor und Matthias Arnoldi machten sich auf den Weg. Für den Sechsjährigen war das wieder eine "halbe Weltreise". Auf dem Rückweg - "wir waren gerade durch Lünebach gefahren" - kamen die amerikanischen Bomber und legten das Dorf in Schutt und Asche. "Ich habe danach zum ersten Mal zu Gott gebetet. Es war fürchterlich. In den Trümmern lagen mehr als 300 Tote." Trotz des Krieges gab es eine Bescherung. "Auf einem Porzellanteller lagen drei Äpfel, fünf getrocknete Zwetschgen, eine Handvoll Nüsse und eine gestrickte Mütze", erinnert er sich. Am nächsten Morgen machten sich Mutter und Sohn um 5 Uhr morgens auf den Weg zur Christmette nach Birresborn. Auf dem Heimweg näherten sich amerikanische Jagdbomber im Tiefflug der Straße und beschossen die Fußgänger. "Wir sprangen jedes Mal, wenn sich ein Flugzeug näherte, in den Graben. Um uns herum spritzten die Steine auf die Straße. Wir dachten, wir kommen nie mehr zu Hause an." Auf dem sieben Kilometer langen Weg mussten sie sich mindestens zehnmal in den Graben werfen, um nicht getroffen zu werden. "Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen", sagt Arnoldi. Doch wie durch ein Wunder, erreichten die beiden unverwundet Kopp. Sein Vater kehrte nach Kriegsende aus russischer Gefangenschaft nach Hause zurück. Sein Beruf hat ihm das Leben gerettet, denn er wurde im Lager gebraucht, um Särge herzustellen. Matthias Arnoldi wird das Weihnachtsfest 1944 nie vergessen. Er denkt, es ist gerade jetzt wichtig, sich nochmal an diese schwere Zeiten von damals zu erinnern. Zumal es für viele Leute momentan in der Corona-Pandemie schon "der Weltuntergang" sei, wenn sie keine Partys mehr feiern könnten.
Dafür habe er kein Verständnis, sagt er und blickt wieder in das Tal vor seinem Haus.
Datum | 24.12.2020 |
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Quelle | Quelle: Trierischer Volksfreund |
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